Unter Verbraucherinnen und Verbrauchern weltweit ist eine häufige Annahme verbreitet: „Zitrusfrüchte sind Sommerprodukte – wenn sie im Winter erhältlich sind, müssen sie stärker gespritzt sein, um die Qualität außerhalb der Saison zu erhalten.“ Oder: „Gemüse wie Tomaten und Gurken, die im Winter im Gewächshaus angebaut werden, enthalten mehr Pestizide, weil dort häufiger gegen Krankheiten und Schädlinge behandelt werden muss.“
Diese Wahrnehmungen sind nicht völlig unbegründet, doch die tatsächliche Pestizidbelastung (Rückstandshöhe bei der Ernte) wird nicht allein durch die natürliche Saison bestimmt. Entscheidend sind andere Faktoren:
- Zeitpunkt der Anwendung und die Wartezeit bis zur Ernte (Pre-Harvest Interval – PHI)
- Art des verwendeten Pestizids (systemisch oder kontaktwirksam)
- Anbaubedingungen (Freiland oder Gewächshaus; Temperatur, Licht, Luftfeuchtigkeit)
- Anwendung eines integrierten Pflanzenschutzes (IPM) durch den Erzeuger
Saisonwahrnehmung vs. Realität
So muss beispielsweise Winterzitronenernte nicht zwangsläufig stärker mit Pestiziden belastet sein. Die Spritzungen erfolgen meist im Frühling und Sommer, während die Ernte im Winter stattfindet. Die Rückstandsmenge hängt daher von der Zeitspanne zwischen Anwendung und Ernte sowie von den chemischen Eigenschaften des Mittels ab.
Auch der Gewächshausanbau ist komplexer, als es scheint. Zwar werden bei einigen Betrieben im Winter höhere Mengen an Pflanzenschutzmitteln eingesetzt, da die Luftfeuchtigkeit hoch ist, Schädlinge ganzjährig auftreten und geringe Licht- und Temperaturbedingungen den Abbau (Photodegradation) verlangsamen. Doch moderne Gewächshäuser mit biologischer Schädlingsbekämpfung und integrierten Methoden benötigen deutlich weniger chemische Mittel. Mit geeigneter Klimatisierung und Nützlingseinsatz kann der Pestizidbedarf sogar sinken. Daher ist die Gleichung „Winter + Gewächshaus = mehr Rückstände“ nicht grundsätzlich richtig.
Hauptfaktoren, die Pestizidrückstände bestimmen
Anwendungszeitpunkt und Pre-Harvest Interval (PHI): Die Wartezeit vor der Ernte ist der wichtigste Faktor. Wird diese eingehalten, können insbesondere oberflächenaktive (Kontakt-)Pestizide weitgehend durch natürliche Zersetzung abgebaut werden.
Pestizidtyp: Kontaktpestizide verbleiben auf der Oberfläche von Obst und Gemüse und nehmen durch Waschen und Umwelteinflüsse rasch ab. Systemische Pestizide hingegen dringen in die Pflanze ein und verbleiben länger in deren Gewebe.
Umweltbedingungen und Abbau: Sonnenlicht, Temperatur und mikrobielle Aktivität beschleunigen den Abbau. Unter Gewächshausbedingungen (weniger UV-Licht, höhere Luftfeuchtigkeit) verlängern sich die Halbwertszeiten, wodurch Rückstände länger nachweisbar bleiben. Auch Lagerung und Nacherntebedingungen beeinflussen den Abbaugrad.
Anbaumethode und Integrierter Pflanzenschutz (IPM): Sowohl im Freiland- als auch im Gewächshausanbau reduzieren biologische Bekämpfung, Nützlinge und Monitoring-Systeme den Bedarf an chemischen Mitteln. In der modernen Gewächshaustechnik nimmt die Abhängigkeit von Pestiziden kontinuierlich ab.
Situation in der Türkei und weltweit
Laut Jahresberichten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und der FAO/WHO liegen die meisten Lebensmittelproben unterhalb der gesetzlich festgelegten Rückstandshöchstgrenzen (MRL). Verstöße treten jedoch punktuell und saisonal gehäuft auf.
Auch in der Türkei werden offizielle Kontrollprogramme durchgeführt. Über das EU-Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (RASFF) werden gelegentlich Warnungen aufgrund von Pestizidrückständen gemeldet, insbesondere während intensiver Ernte- und Exportphasen.
In der Türkei saisonal vergleichsweise risikoreiche Produkte
Frühling (April–Juni):
- Erdbeeren: Mai- und Juni-Erdbeeren werden häufig mehrfach behandelt. Aufgrund der dünnen Schale und schnellen Verderblichkeit ist das Rückstandsrisiko höher als bei anderen Früchten.
- Kirschen: Kurze Erntezeit und Exportdruck führen zu erhöhter Insektizidanwendung vor der Ernte.
Sommer (Juni–August):
- Trauben, Heidelbeeren: Fungizideinsätze gegen Pilzkrankheiten nehmen im Sommer zu; entsprechend sind Rückstände häufiger nachweisbar.
- Tomaten, Paprika, Auberginen: Hohe Temperaturen und Schädlingsdruck führen zu mehr Insektizid- und Fungizidanwendungen.
Herbst (September–November):
- Äpfel, Birnen, Granatäpfel: Nacherntebehandlungen und Fungizide zur Lagerung können Rückstände hinterlassen.
Winter (Dezember–Februar):
- Zitrusfrüchte (Orangen, Mandarinen, Zitronen): Spritzungen erfolgen meist im Frühling und Sommer; bei Einhaltung der PHI liegen Rückstände im Winter in der Regel unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte.
Saison allein ist kein verlässlicher Indikator
Saisonalität ist kein sicherer Indikator für Pestizidbelastung. Das Beispiel der Zitrusfrüchte zeigt, warum die Annahme „Winterfrüchte sind stärker gespritzt“ irreführend ist: Rückstandsmengen hängen vielmehr von Anwendungszeit, Mitteltyp und PHI ab.
Für Verbraucher ist entscheidend, wer produziert – und welche Produkteigenschaften vorliegen. Frühe Frühjahrs- und Sommerfrüchte wie Erdbeeren gehören aufgrund häufiger Behandlungen und schneller Verderblichkeit zu den sensibelsten Gruppen. Frühzeitige Ernten mit hoher Marktprofitabilität bergen ein höheres Risiko. Auch die Struktur des Produkts beeinflusst, wie tief Pestizide eindringen und wie lange sie verbleiben.
Gewächshausproduktion kann durch den geschlossenen Raum zwar den Abbau verlangsamen, gleichzeitig aber den Pestizidbedarf bei guter Bewirtschaftung reduzieren.
Während amtliche Kontrollberichte in der Türkei und weltweit eine überwiegend gute Einhaltung der Grenzwerte zeigen, weisen Berichte von Nichtregierungsorganisationen auf Mehrfachrückstände und die besondere Empfindlichkeit von Kindern hin.
Daher sollten Verbraucher und politische Entscheidungsträger wissenschaftliche Kriterien anstelle bloßer Saisonannahmen berücksichtigen. Pestizidtests und transparente Berichterstattung müssen ausgebaut werden. Saisonale Schwankungen sollten in Kontrollmechanismen integriert werden, um die Wirksamkeit der Überwachung zu erhöhen. Gezielte Kontrollen während intensiver Ernte- und Exportzeiten verbessern die Marktaufsicht. Schulungen für Landwirte zu PHI-Compliance und integriertem Pflanzenschutz sind entscheidend, um den Einsatz insgesamt zu reduzieren. Vor allem aber stärkt die öffentliche Veröffentlichung von Kontrollergebnissen den Informationsfluss und das Vertrauen der Verbraucher – Transparenz schützt Gesundheit und stärkt das Vertrauen in das Lebensmittelsystem.
Quellen:
- Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA): Jahresbericht 2023 über Pestizidrückstände in Lebensmitteln. EFSA Journal 2025;23(1):e20010 https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/20010
- Weltgesundheitsorganisation (WHO) & Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO): Gemeinsamer Bericht über Pestizidrückstände (JMPR) – Bewertung 2023 https://www.fao.org/pest-residues-jmpr
- Europäische Kommission – RASFF (Rapid Alert System for Food and Feed): Jahresbericht 2024 über pestizidbedingte Verstöße und Warnungen innerhalb der EU https://food.ec.europa.eu/safety/rasff_en
- Ministerium für Landwirtschaft und Forstwirtschaft der Republik Türkei: Jahresbericht 2023 – Programm zur Überwachung von Pestizidrückständen in pflanzlichen Produkten https://www.tarimorman.gov.tr
- Generaldirektion für Lebensmittel- und Kontrollwesen (T.C. Tarım ve Orman Bakanlığı): Jahresberichte zu den amtlichen Lebensmittelkontrollen https://www.tarimorman.gov.tr/GKGM